Ich habe gar nicht lange gefackelt. Eile war geboten, nachdem ich es bei Virtual World Info gelesen hatte: In wenigen Stunden wird im Second Life ein Pink Floyd http://www.floydian.de Konzert stattfinden. Also logge ich mich ein und entführe Pia Piaggio direkt vom Strand zur Konzertbühne.
„Och Mensch Stephy,“, jammert Pia, „ jetzt machst du gleich wieder den totalen Stress. Dabei freue ich mich so sehr, dich wiederzutreffen! Lass uns doch noch ´nen Drink nehmen und uns dann gemütlich aufmachen.“ Aber ihr letzter Satz geht schon im Teleportsog unter.
Die betagte Musikertruppe hat sich mit ihrer Show auf dem Gelände von New Media Consortium (NMC) angesiedelt. Wiederbelebt wird das Album „The Wall“ von 1979 und die damalige Reallife-Show vom 21.Juni 1990 in Berlin . In Zusammenarbeit mit CARP (Cybernetic Art Research Project) machte sich die Band daran, eine virtuelle Show daraus zu entwickeln. Die erste Second-Life- Version wurde vierzehn Mal gezeigt und zog insgesamt 1260 Avatare in ihren Bann. Zunächst gab es jedoch nur eine abgespeckte Darbietung, sowie jede Menge Poseballs zum Benutzen. Die Überarbeitung zeigt nun die totale Show und nennt sich „The Wall V-2“. Na, Pia Piaggio, dann mal los zum Ort des Geschehens auf der Sim NMC Campus West .
„Du bist so hart drauf, ich hab‘ noch meine Strandsachen an! So kann ich da doch nicht hingehen. Noch nicht einmal Schuhe trage ich….“, beschwert sich Pia bitterlich. Macht nix, erkläre ich ihr, Pink Floyd das sei voll Hippie und ohne Schuhe käme das erst recht gut. Sie schaut mich ungläubig an. Alles sei dort voll auf Peace, beruhige ich sie, und das scheint sie zu überzeugen. Sie sträubt sich nicht mehr, als ich sie in den Teleportsessel setze.

Bequeme Sitzsäcke warten auf die Avatare, mit denen sie sich auf die Bühne in 610 Meter Höhe beamen können.

Das Ganze dauert keine drei Sekunden. „Mir wird schlecht“, stöhnt Pia, landet jedoch gleich darauf genau vor der Bühne.

Noch ist nichts los. Ein paar Mauersteine auf der Bühne und darüber die Frage von vor fast 30 Jahren: „Mother , should I trust the government?“ Ob das heute überhaupt noch gefragt wird? Oder geben selbst Kleinkinder heutzutage wie selbstverständlich den Ratschlag: „Mother, never trust the government!“, weil alle Antworten auf die alte Frage schon lange verspielt sind ? However.
„Wann geht’s denn endlich los?“, quengelt Pia. Das dauert noch einen Moment. Vorsorglich habe ich Pia schon eine halbe Stunde vor Konzertbeginn vor Ort geschafft. Am Ende wäre sie sonst nicht mehr hingekommen.

Ein glitzerndes und funkelndes Muskelpaket taucht wie ein Geist neben Pia auf. „Hi“, begrüßt er sie. Auf nette Umgangsformen wird eben normalerweise Wert gelegt im SL, das ist immer wieder schön zu erfahren. „Huuiih,“, zischelt Pia mir zu, „der sieht ja STARK aus!“

Nach und nach trudeln weitere Musikfans ein. Das Team von CARP weist immer wieder darauf hin, jegliche Facelights oder andere Primlights auszuschalten, weil sonst die Bühnenshow gestört würde. Pia Piaggio muss da nicht viel ausschalten, ist sie doch noch immer mit dem Standardshape- und skin unterwegs.

Zehn Minuten vor Start füllt sich das pfeilförmige Zuschauerareal so langsam.

Erst wenige Sekunden vor 2 pm (PDT) nimmt der Traffic merklich zu. Warum auch vorher irgendwo erscheinen? Avatare kennen weder Parkplatzsorgen noch Warteschlangen. Allerhöchstens passiert es manchmal, dass eine SIM dichtgemacht wird, wegen zu viel Traffic. Heute, am Freitag dem 27. Juni ist bisweilen noch Spiel drinnen bei der Besucherzahl der Premierenshow von „The Wall V-2“.

Punkt 21 Uhr MEZ geht die Show los. Die Bühne flammt auf in schrillen Farben und Bildern; Pink Floyd legt los.

„The Thin Ice (of modern life)“ wird auf drei verschiedenen Monitoren von erschreckenden Bildern begleitet, die das Zeitgeschehen der wirklichen Welt so liefert.

Wie auch bei den realen Pink Floyd Shows besticht das Bühnenbild unter anderem durch seine ständig wechselnde Farbigkeit.

Im Rausch der Farben und Bilder des wirklichen und unwirklichen Lebens wird fleißig an der Mauer gebaut: „…..All in all it`s just another brick in the wall…….“ .

Da ist der Junge, der seinen Daddy im Krieg hat verloren und nun an seiner Mutter hängt, wie eine Klette. Er fragt sie: „….Mother should I build a wall?……“

Ob sie ihm dazu wirklich rät, das weiß keiner. Aber aus dem kleinen Jungen wird ein großer Mann, und dann braucht er nicht mehr seine Mutter, sondern „……Ooooooooh I need a dirty woman ……..“.

Das Publikum ist begeistert bis verzückt. „oooooooh its magic……“ wird in den Chatkasten gehackt oder auch: „ggg“ oder ein schlichtes „wow“.
„Ist ja wirklich ganz schön geil, diese Bildershow, aber du sagtest doch, das sei ein Konzert. Wo ist denn dann die Musik?“, will Pia wissen. Tja, stimmt, wo ist nur die Musik? Ich war so in den Effektrausch versunken, hatte die viele tausendmal gehörte Platte so in den Ohren, dass mir das gar nicht auffiel: Pia Piaggio hört nix. Ich kontrolliere die Streamer unter Einstellungen. Alle eingeschaltet. Lautstärke auf volle Suppe. Aber es kommt kein Sound.
Eine Frage in die Chatrunde führt zu dem blöden Ratschlag, ich solle mir mal die Ohren putzen. Hahaha. Pia ist kurz davor, den Typen aus der Menge zu fischen und ihm eine runterzuhauen, aber ich erinnere sie an das Motto: Peace.
Ein anderer rät, Pia zu reloggen. Davon hält sie aber gar nichts. „Nee, lass mal, ich will sehen, wie der Pink Floyd die Mauer hochzieht. Der scheint sich tatsächlich einzumauern, der Ärmste.“
Das fasziniert Pia offensichtlich. Ich eile mal geschwind zur Stereoanlage und schmeiße die alte Vinylplatte drauf. Nur der Stimmung wegen. Pia sage ich davon natürlich nichts.

Es fehlen nur noch zehn Steine, um das Werk zu vollenden – brick für brick schließt sich eine Welt hinter der grauen Mauer.

Schließlich ist alles verrichtet und nun macht sich der Held seine eigene Welt. „…..Goodbye cruel world – I´m leaving you today……“, singt Roger Waters oder David Gilmour dazu.

Die neue Welt taucht auf in Form einer avatarbesetzten Kugel, die sich wie in einer Disco dreht und dabei funkelt. „its amazing“ und „yeahhh“ wird gechattet.

Von einem Moment zum nächsten verschwindet diese magische Avatarkugel jedoch und ein virtuelles Kriegsszenario erscheint stattdessen.
Jetzt hat Pia Piaggio auch was zu sagen. „Peace, Leute“ gibt sie in den Chat ein und outet sich damit fürchterlich. In der anwesenden Chatrunde scheint dieses Motto nicht so angesagt. Eine kurze Chatpause entsteht – ein sicheres Zeichen, dass man etwas Falsches, dem derzeitigen Gruppenkontext Unangebrachtes gesagt hat.

„Wegen mir können wir jetzt abhauen“, meint Pia leicht frustriert. „Die Mauer ist fertig und ich würde jetzt gerne mal die Musik dazu hören.“
Okay, da muss ich mich aber noch schlaumachen, wie wir das hinkriegen können. Ich befürchte, meine Funkverbindung ist zu schwach für diese gigantische Show. Da sollte ich mir wohl das brandneue, schnellere, bessere 3,5G-Modem http://www.ofertatelefonica. es/internet_movil zulegen, das gerade neu auf den Markt gekommen ist. Aber dafür bleibt ja noch Zeit. Schließlich war dies erst der Auftakt für „The Wall V-2“.
Unnötig zu erwähnen, dass die alten Meister von Pink Floyd zusammen mit CARP dem Publikum eine hervorragende Arbeit zum kostenlosen Vergnügen präsentieren. Im NMC Campus Observer kommentiert das jemand so:
„A great big luscious SL musical extravaganza. „THE WALL“ has taken SL by surprise and will be a hit musical. Powerfull and subversive. It`s a fabulous production.“
Wohl wahr. Erstaunlich, wie lange „The Wall“ nun schon die Musikfreunde begeistert. Und wie ausgesprochen fortschrittlich das ganze Projekt war, zeigt sich an der problemlosen Adaption in ein völlig neues Medium viele Jahre später. Na ja, wenn ich das Innencover des Vinylalbums von ´79 betrachte, waren diese Künstler eigentlich damals schon in einem Zweitleben angekommen.
Pink Floyd „THE WALL V-2“ bis auf Weiteres jeden Freitag und Sonntag um 21.00 Uhr auf der Sim NMC Campus West